No. 20 - Über Macht und Misstrauen
- Julia Binsack
- 30. Mai
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 3. Juni
Demokratie, das lehrt uns die Geschichte, ist ohne Misstrauen nicht zu haben. Sie ist ein System, das nicht auf blindes Vertrauen, sondern auf Zweifel und Kontrolle beruht. Gewaltenteilung, freie Presse, parlamentarische Opposition – sie alle sind Ausdruck der grundlegenden Annahme, dass Macht missbraucht werden kann und eventuell auch wird, wenn wir unseren politischen Vertretern und Vertreterinnen nicht situativ reflektieren, also auf die Finger schauen. Insofern ist Misstrauen nicht der Makel der Demokratie, sondern ihr konstituierendes Element.
Und dennoch: Misstrauen ist längst nicht mehr nur kritisches Korrektiv. Es ist zum Markenzeichen öffentlicher Kommunikation geworden. In Interviews, sozialen Netzwerken, politischen Reden. Der Zweifel an Institutionen, an Entscheidungsträgern und Machthaberinnen wird nicht nur geäußert, sondern zum Teil auch zelebriert. Misstrauen verleiht moralische Überlegenheit, wirkt aufrüttelnd und stellt Nähe zum Publikum her. Wer misstraut, zeigt Haltung – selbst dann, wenn der konkrete Anlass vage bleibt oder sich im Nachhinein als unbegründet herausstellt.
Unser Gehirn liebt diesen Alarm. In unserer evolutionären Geschichte war Wachsamkeit gegenüber potenziellen Gefahren überlebenswichtig. Der Reiz des Misstrauens liegt im Aufschrei: Da stimmt etwas nicht! – und dieser Impuls bringt uns dazu, genauer hinzusehen. Der Zweifel ist Schutz. Das Problem dabei: In einer Medienumgebung, in der Reichweite und Relevanz durch Aufregung generiert werden, mutiert der gesunde Alarm zur Dauerempörung.

Namhafte Autoren und Autorinnen wie Sascha Lobo und Carolin Emcke haben sich mit diesem Thema auseinandergesetzt und warnen, dass Zweifel in Misstrauen und damit auch ins Destruktive umschlagen kann. Was eigentlich ein stabilisierendes Element demokratischer Kultur sein soll, drohe sich in sein Gegenteil zu verkehren. Misstrauen, so Lobo, habe sich vom Fundament der Demokratie zum Mittel ihrer Aushöhlung entwickelt – ein reflexhaftes Prinzip, das nicht mehr unterscheidet zwischen Kontrolle und Zerstörung.
Die Folgen sind gravierend. Wenn jede politische Maßnahme, jede Entscheidung, jedes öffentliche Amt unter Generalverdacht gestellt wird, wird das Vertrauen in die Demokratie selbst ausgehöhlt. Es ist eine paradoxe Entwicklung: Das Zusammenspiel von Meinungsfreiheit und Misstrauen, beides Grundrechte demokratischer Ordnung, kann – wenn es überdreht – genau diese Ordnung untergraben. Was als Kontrolle begann, wird zur ständigen Delegitimation. Misstrauen wird Selbstzweck.
Dient mein Zweifel der Aufklärung oder der Aufregung? Wie wähle ich meine Worte?
Wie also umgehen mit diesem Dilemma? Wer sich heute auf eine öffentliche Bühne begibt, sei es als Interviewpartner, Talkshowgast oder in den Sozialen Medien, kann sich fragen: Dient mein Zweifel der Aufklärung oder der Aufregung? Wähle ich meine Worte so, dass sie zur Debatte beitragen – oder zünde ich ein rhetorisches Streichholz in einem Raum voller Benzindämpfe? Ein Tipp: Wenn Sie auf ein gesellschaftliches oder institutionelles Problem aufmerksam machen wollen und die Debatte suchen, formulieren Sie nicht sofort den Verdacht, sondern stellen Sie erstmal die dazugehörige Frage. So bleibt Misstrauen das, was es sein sollte – ein Anstoß zum Denken, kein Ersatz dafür.
Viel Spaß bei der nächsten öffentlichen Debatte! Danke, dass Sie sich beteiligen. Wir leben in aufregenden Zeiten.
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